Die Politik des Nahen und Mittleren Ostens ist das Fachgebiet des Marburger Professors Rachid Ouaissa. Im Interview mit der Oberhessischen Presse spricht der Wissenschaftler von der Philipps-Universität über den Hamas-Überfall auf Israel, die Bodenoffensive im Gazastreifen und den Antisemitismus in Deutschland.
Lesen Sie hier den vollständigen Artikel:
Nachfolgend ist das Interview zu lesen:
Ein Israel-Palästina- parallel zum Ukraine-Krieg: Wie groß ist die Gefahr eines großen Kriegs in Nahost, die Verwicklung des Westens, gar eines 3. Weltkriegs?
Die Gefahr eines Dritten Weltkriegs sehe ich nicht, da die Region letztlich zu unbedeutend ist. Weder gibt es viele Rohstoffe, noch ist es die Lunge der Welt, für das Weltsystem spielt sie letztlich keine Rolle. Dass das Gebiet nicht wichtig genug ist, ist ja genau der Grund dafür, dass der Konflikt nie gelöst wurde. Er wurde von Arabern wie Europäern und Amerikanern immer nur mit gutem oder schlechtem Gewissen behandelt, je nach innen- und außenpolitischer Interessenlage bekam er mal mehr, mal wenigerAufmerksamkeit. Für die regionale Ausweitung des Kriegs gibt es eine Gefahr,aber auch das eigentlich nur bei nicht-staatlichen Akteuren. Denn sowohl Syrien als auch Libanon haben so viele innere Probleme, dass sie ihre Ruhestatt eine Rolle in einem neuen Konflikt haben wollen.
Und der Iran?
Er ist die große Unbekannte. Klar ist, dass er Akteure wie Hamas und Hisbollah für seine Interessen manipuliert und instrumentalisiert. Aber Iran wird in keinen großen Konflikt direkt reingehen, auch weil das Land im Inneren wirtschaftlich wie gesellschaftlich geschwächt ist.
50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg: Wie sehen Sie die geopolitische Dimension dessen, was nun in Israel passiert?
Die Welt erlebt große geopolitische Verschiebungen. Der Ukraine-Krieg zeigt, dass der lange dominante Westen auf globaler Ebene Deutungshoheit und so auch Einfluss verliert. Der Rest der Welt sieht das Problem so nicht und lässt Europa wissen, dass nicht alles, was den Westen stört, auch alle anderen so erfassen müssen. Die BRICS-Staaten wie Brasilien, Indien und Südafrika, die völlig andere Visionen haben und auf die die Palästinenser setzen, werden stärker, wollen das Gleichgewicht und die Weltordnung verschieben. Siehe die Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien. Der Hamas-Angriff könnte daher eine weitere Fragmentierung der Weltgemeinschaft zur Folge haben, die Spaltung zwischen Nord und Süd verschärfen. Weil auch da die Positionierung zu diesem Konflikt auf südlicher Seite völlig anders ist.
Wie vereint oder gespalten ist die arabische, die muslimische Welt über die Juden-, die Israel-Frage?
Fraglos ist Antisemitismus in der arabischen Welt weit verbreitet. Was das Existenzrecht Israels, die Anerkennung des Staats, Geschäft e und Verträge mit ihm angeht, gibt es aber große Unterschiede. Da sind Ägypten und Jordanien,die ein eher unkompliziertes Verhältnis zum Nachbarn haben. Es gibt mit Marokko und Sudan Länder, die – auch mit teilweise historischenVerbindungen zum Judentum – aus pragmatischen Gründen Israel anerkennen. Heißt: Politische Nähe, wirtschaftliche Entwicklungschancen und letztlich Geld aus USA und Europa. Dann gibt es mit etwa Saudi-Arabien ein Land, das gerne aber nicht offiziell mit Israel Verträge hat, es quasi indirekt anerkennt. Und dann gibt es die Hardliner wie Iran, Algerien,Tunesien, Libyen und Syrien, die Israel komplett ablehnen.
Wieso scheint der Konflikt so unlösbar?
Immer, wenn es zu einer möglichen Lösung, einer friedlichen Ko-Existenz kommen könnte, ist einer der beiden Seiten in einer Machtposition, die keinen Minimalkompromiss, sondern für sich mehr erreichen will. Die historischen Argumente, wer zuerst da war, auch die religiöse Aufladung wird instrumentalisiert und verkompliziert alles – dabei sind das keine entscheidenden Gründe. Ganz nüchtern gibt ein Demografie- und Wasser-, ein Ressourcen- und Raumproblem. Etwas, wofür der Westen Verantwortung trägt. Gerade die Rolle Großbritanniens und die Aufteilung der Region 1915/16 hat ein Problem geschaffen, das der Westen hat ruhen lassen. Eben, weil dieRegion nicht so wichtig ist. Im Gegenteil, die Region des Nahen Osten war nur wegen des Zugangs zu Öl wichtig. Umso wichtiger, Feindschaften und Konflikte in der Region zumindest latent aufrechtzuerhalten.
Zwei Staaten, Einstaaten-Lösung mit gleichberechtigten Arabern – das sind alte Ideen. Nach dem größten Judenmord seit dem Holocaust: Wie könnte Israel nun jemals einen palästinensischen Staat zulassen?
Die Hamas hat jedenfalls dafür gesorgt, dass es negative Auswirkungen auf die Rechte, die der Palästinenser für den legitimen Kampf für einen eigenen Staat haben wird. Rein theoretisch gibt es in Nahost drei, logisch nur eine Lösung.Die theoretisch erste ist ein israelischer Staat mit großer geduldeter arabischer Minderheit, was aber wegen der Geburtenrate und auch dem Hass aufeinander, auch dem Kolonialverhalten Israels nicht machbar ist. Eine zweite theoretische, aber undenkbare Möglichkeit, ist Vernichtung, alsoVölkermord. Es bleibt also nur die Zweistaatenlösung und damit die Frage nach Israels Siedlungspolitik und dem Palästinenser-Flickenteppich. Solange Israel kolonialistisch agiert, ist nie mehr als eine zeitweise Befriedung möglich. Über die jetzige Katastrophe muss Israel von der Weltgemeinschaft dazu gebracht werden, eine langfristige Lösung zu suchen – und die wird nicht sein, alle Hamas-Anhänger, also wohl fast alle Palästinenser zu töten.
Es steht hingegen in der Hamas Gründungs-Charta, dass man erst aufhöre, wenn Israel, die Juden vernichtet seien.
Die Islamisten der Hamas schaden Palästina, sie sind eine Gefahr für Juden wie Palästinenser. In Ägypten, Algerien, Tunesien und in der gesamten Region ist der Islamismus als politisches und gesellschaftliches Projekt gescheitert. Auch die Hamas, die seit 2006 Gaza regiert, hat keine gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolge nachzuweisen. Der Hamas geht um die Existenz der Hamas. Ihr bleibt, weil sie als politisches Projekt gescheitert ist, als einzige Legitimation und um Sympathien zu gewinnen, der Befreiungskampf. Der Anschlag war aber kein revolutionärer Akt, keine Befreiungsaktion, nicht gegen den Staat gerichtet – eine revolutionäre Bewegung versucht, Sympathien für die Sache zu gewinnen. Es ist illusorisch zu glauben, dass man Juden auslöschen kann, die Welt das zulassen wird.
Die Hamas ermordet Hunderte Menschen, Israel reagiert mit Militäreinsatz,Palästinenser beklagen Opfer: Kann dieses Kalkül von Täter-Opfer-Umkehr aufgehen?
Die Gefahr ist, dass das natürlich zu einer Reaktion gezwungene Israel mit einer „Carte blanche“ und einem Okay à la „Macht was ihr wollt“ das Spiel der Hamas spielt und in deren Falle tappen wird. Denn seit 2006 wird Gaza von der Hamas für die Hamas umgebaut. Es ist eine Falle, in die Israel eingeladen wird. Um etwas zu schaffen, wie die Schlacht von Algier 1957, bei der Franzosen im Häuserkampf praktisch erstickt wurden. Wenn Bilder einer Bodenoffensive aus Gaza gezeigt werden, riskiert Israel, das Ansehen zu verlieren. Mit einem Messer auf ein Messer zu antworten, ist nicht klug. Es müssen schnell Staaten als Moderatoren auftreten, da es ab jetzt nur Verlierer geben wird. Zumal: Arme Palästinenser haben im Krieg nur ihr Leben zu verlieren, das prosperierende Israel hat Wohlstand und Leben zu verlieren, was einen großen Unterschied macht.
Wieso fällt es vielen Muslimen so schwer, den jüngsten Massenmord zu verurteilen?
Zum einen gibt es die Emotion, viele sind persönlich betroffen, haben selberAngehörige verloren. Zum anderen gibt es die religiöse Wichtigkeit, verbunden mit der Jerusalem-Frage. Vor allem aber macht sich am Beispiel Palästina ein Fass rund um europäischen Kolonialismus und Post-Kolonialismus auf. Es geht um Demütigung, und das Gefühl derUngerechtigkeit der Weltordnung wird ausgeschlachtet. Dabei gibt es in der arabischen Welt die gleiche Ungerechtigkeit. Jemen wird von Arabern vernichtet, West-Sahara wird von Marokko kolonialisiert. Wenn es kein Palästina-Problem, es Israel nicht gebe, müsste man es erfinden. Ägypten, Jordanien, Syrien, viele Länder leben von diesem Problem, man kann plötzlich Palästinenser sein, um je nach Interessenlage für oder gegen das eigene Regime zu arbeiten. Es ist identitätsstiftend, es lenkt Araber von den eigenen Problemen in Land und Gesellschaft ab, man ist gegen einen Externen, einen den Westen verkörpernden Feind geeint.
In Deutschland wird im Kontext Antisemitismus über Migrationspolitik debattiert. Hat man mit den offenen Grenzen seit 2015 Antisemitismus importiert?
Zuerst ist Antisemitismus ja eine deutsche Erfindung mit nie gekannten oder wiederholten Folgen. Tatsächlich gibt es aber einen islamischen Antisemitismus und Muslime, etwa aus Syrien, bringen diesen bei ihrer Flucht mit. Aber es gilt wie so oft : Nicht alle denken so. Ohnehin ist die Islamisierung des Nahost-Konflikts ein großes Problem. Denn so können sich Nazis auf die Seite Palästinas und die scheinbar gerechte Sache stellen, um gegen Juden zusein, ihren Antisemitismus kaschieren zu können.
Aber ist – siehe Anti-Israel-Haltung oder Wählerstimmen für Erdogan in derTürkei – nicht in der Integration etwas schief gelaufen, wenn sich auch die zweite, dritte Generation von Einwanderern nicht zu Werten und Lebensweisen des Westens bekennt?
Es ist ein Fehlglaube, dass die Einwanderer der letzten 50 Jahre nicht deutsch genug geworden seien und die Integration versagt habe. Es wirkt zwar wie ein Paradox, dass Menschen einst flohen oder auswanderten, um weg zu sein von Diktatoren und Armut, dass sie im Westen die Vorzüge von Freiheit, Rechtsstaat und Kapitalismus genießen und bei weltpolitischen Ereignissen dann Palästina, Putin oder Erdogan unterstützen. Aber dazu muss man verstehen, wie tief auch über Generationen der Kolonialismus sitzt. Von Rohstoffen bis Arbeitskräften gründet der Reichtum des Westens auf der Ausbeutung des Südens. Die meisten Einwanderer wären nicht im Westen,wenn es im Süden Prosperität gäbe. Eigentlich wollen Migranten lieber zu Hause, in der Heimat, bei Familie, der kulturellen Gemeinschaft sein. Dass es nicht so ist und eine internationale Ordnung dafür sorgte, empfinden sie als Ungerechtigkeit, sodass sie sich sogar auf seiten der Regime stehen, die sind, wie jene, aus denen sie flohen, weil diese dem Westen die Stirn bieten.Deswegen ist es wichtig, das Problem als postkoloniales Problem zu verstehen und nicht als gescheiterte Integration. Ich sehe hier Parallelen zu Ostdeutschland. Sind Ostdeutsche schlecht integriert? Nein. Aber die Art der Übernahme und Überheblichkeit des Westens hat Spuren hinterlassen. Dabei weiß jeder Ostdeutsche, dass das Leben ohne Mauer viel besser ist.
Zugriff auf die PDF-Version: Interview_OP_Ouaissa.pdf