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Konferenzbericht: Extractivism Flying Academy 2023 in Tunesien

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Einführung

Das Verbundprojekt Extraktivismus organisierte vom 24. bis 25. Oktober 2023 in Tunesien seine zweite Extractivism Flying Academy. Diese internationale Konferenz fand in Zusammenarbeit mit dem Forschungslabor „Gouvernance et Développement Territorial“ der Universität Tunis statt und erfreute sich großer Resonanz in der Öffentlichkeit. Insgesamt nahmen über 80 interessierte Teilnehmer:innen an der Konferenz teil. 

Der erste Tag der Konferenz fand in der tunesischen Nationalbibliothek in Tunis statt, während der zweite Tag an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften abgehalten wurde. Insgesamt nahmen 35 renommierte Forscher aus Deutschland, Tunesien, Algerien, Marokko, Mauretanien, Argentinien, Chile, Brasilien, Italien, Spanien und Frankreich an der Konferenz teil. Darüber hinaus waren viele Studierende und Promovierende der tunesischen Universitäten sowie Mitarbeiter:innen und Fellows des Merian Center for Advanced Studies in the Maghreb (MECAM) anwesend. Die Konferenz wurde online auf verschiedenen Plattformen wie dem YouTube-Kanal der Nationalbibliothek und auf Facebook übertragen und erreichte ein breiteres Publikum. Die Konferenzvideos erzielten über 1500 Aufrufe.

Eröffnungssitzung der Konferenz

Die Projektleiter des Forschungskonsortiums Prof. Dr. Hans-Jürgen Burchardt (Universität Kassel) und Prof. Dr. Rachid Ouaissa (Philipps-Universität Marburg) betonten während der Eröffnung der Konferenz die Relevanz des Projekts. Dieses zielt darauf ab, die anhaltende Bedeutung des Extraktivismus als Entwicklungsmodell in Lateinamerika und im Maghreb zu verstehen. Sie hoben hervor, dass angesichts des globalen Energiewandels die Zusammenarbeit zwischen Ländern des Südens an Bedeutung gewinnen wird und es entscheidend sei, nicht nur angemessen auf Umweltprobleme zu reagieren, sondern auch Alternativen zum Extraktivismus umzusetzen.

 Prof. Dr. Mourad Ben Jelloul, Mitorganisator der Konferenz und Leiter des Forschungslabors „Gouvernance et Développement Territorial“ (LR-GDT), betonte die Bedeutung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd sowie auf einer Süd-Süd Ebene. Die Organisation dieser Konferenz in Tunesien festige die Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Universitäten und der Universität Tunis. Er betonte, dass das Thema Extraktivismus, obwohl im Maghreb noch relativ neu, eine Gelegenheit für eine wissenschaftliche Partnerschaft mit Forschern aus Lateinamerika und Europa darstelle. 

Die Eröffnung der Konferenz wurde schließlich von Prof. Dr. Habib Sidhom, dem Präsidenten der Universität Tunis, eröffnet, der die Bedeutung einer solchen internationalen Konferenz für die Universität Tunis hervorhob, da sie die Möglichkeit biete, ein breites interdisziplinäres Forschungsnetzwerk mit europäischen und lateinamerikanischen Ländern aufzubauen. Der Präsident der Universität Tunis unterstrich das Engagement der Universität von Tunis, solche Treffen und wissenschaftliche Diskussionen zu organisieren.

Eröffnung der internationalen Konferenz in der Nationalbibliothek Tunesiens

In seiner Eröffnungsrede führte Prof. Dr. Mourad Ben Jelloul das Konzept des Extraktivismus ein und betonte, dass dieses Konzept bisher wenig Aufmerksamkeit im wissenschaftlichen und politischen Diskurs in der Region des Maghreb gefunden habe. Dennoch beschreibe es treffend das wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklungsmodell der Länder des Maghreb, das in Lateinamerika entwickelt und ausführlich diskutiert wurde. Bei der Analyse der Wirtschaftsmodelle der Maghreb-Staaten erweise sich eine konzeptionelle Nähe zu verwandten Konzepten wie etwa Rentier State als besonders wichtig, insbesondere im Kontext der Beschreibung der öl- und gasexportierenden Länder. Diese Konzepte stünden jedoch vor der Herausforderung, die bereits laufende weltweite Energiewende und die Auswirkungen des „grünen Extraktivismus“ zu berücksichtigen.

Panels

Das erste Panel mit dem Titel „Green Extractivism, Energy Transition, and New Rents“ konzentrierte sich auf die Energiewende im Maghreb, neue Einkommensquellen und grünen Extraktivismus. Es wurde diskutiert, wie die Energiewende durch die Nutzung erneuerbarer Energien (etwa Solarenergie, Windenergie und Wasserstoff) vorangetrieben wird, insbesondere im Hinblick auf die Beteiligung europäischer Akteure an Solarenergieexportprojekten wie DESERTEC im Rahmen des Grünen Deals der EU. Die Beiträge zeigten, dass die Energiewende im Maghreb die Muster des Extraktivismus reproduzieren kann, während gleichzeitig die Abhängigkeit von Europa aufrechterhalten oder sogar verstärkt wird. Die Finanzierung technologischer Veränderungen und sozio-struktureller Transformationen wurden als kritische Faktoren für den Erfolg der Energiewende identifiziert. 

Das zweite Panel mit dem Titel „Class, State, and Power“ untersuchte die Akteure und Koalitionen, ihre Machtkonstellationen und Interessen, sowie die Rolle der Mittelschicht in der Verfestigung und Wandlungsfähigkeit des Extraktivismus. Am Beispiel Algeriens wurden typische Konstellationen entscheidender Akteure diskutiert. Dies diente als Ausgang für die Analyse der Möglichkeiten und Grenzen aufstrebender Mittelschichten in Rentengesellschaften. Darüber hinaus wurde die Rolle politischer Koalitionen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Reformbewegung in Algerien hervorgehoben. Die Diskussion behandelte auch die Rolle der Gewerkschaften bei der Vermittlung wirtschaftlicher und politischer Interessen in Mauretanien. 

Mit Beginn des zweiten Konferenztags an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften thematisierte das dritte Panel der Konferenz „Re-negotiating Extractivism: Drivers of Change“, konzentrierte sich auf die Diskussion von Lösungsansätzen, um dem Extraktivismus zu entkommen. Am Beispiel Tunesiens wurde erörtert, inwieweit neue Verhandlungsansätze mit lokalen und regionalen Protestakteuren im Rahmen der Neudefinition des Entwicklungsmodells nach dem sogenannten Arabischen Frühling von 2011 entwickelt wurden. Ein Schwerpunkt lag auf den regionalen wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten zwischen Abbaugebieten, wie etwa der Gafsa-Region, und den Küstenregionen im Osten Tunesiens. Darüber hinaus wurden theoretische und methodische Ansätze zur vergleichenden Analyse von Extraktionsgesellschaften vorgestellt. 

Das vierte Panel der Konferenz mit dem Titel „Extractivism, Crisis, and Resistance“ lieferte eine detaillierte Beschreibung der sozialen Bewegungen in den Abbaugebieten. Es untersuchte die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen des Extraktivismus in Tunesien, insbesondere im Bergbaubecken von Gafsa. Die Diskussion konzentrierte sich auf die Probleme und alternativen Ansätze zur lokalen Beteiligung sowohl in den Abbaugebieten als auch in den Städten. Es wurden Parallelen zu den Protestbewegungen in Lateinamerika deutlich. 

Das letzte Panel mit dem Titel „Extractivism, Land, and Agriculture“ konzentrierte sich auf Protestbewegungen in ländlichen Gebieten des Maghreb und Lateinamerikas. Es wurden Fragen im Zusammenhang mit der Landnutzung in agrarisch geprägten Exportregionen in Marokko und Tunesien sowie der Lithiumgewinnung in Argentinien erörtert. Die Beitragenden betonten Alternativen zum Extraktivismus, die sowohl von Protestbewegungen als auch in konkreten Projekten zur Förderung des Umweltschutzes, wie „grüne“ Start-up Unternehmen in Tunesien und Chile, entwickelt wurden.

Abschluss der Konferenz

In der Abschlusssitzung der Konferenz fassten Prof. Dr. Rachid Ouaissa, Prof. Dr. Mourad Ben Jelloul und Dr. Hannes Warnecke-Berger die wichtigsten Erkenntnisse zusammen und diskutierten offene Fragen mit allen Teilnehmern.

  • Das Konzept des Extraktivismus ermöglicht eine präzise Beschreibung der Entwicklungsmodelle im Maghreb. Es ermöglicht die Analyse von Akteuren, Koalitionen, Machtstrukturen sowie Konflikt- und Verhandlungslinien im Zusammenhang mit der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Zukünftige Forschung sollte sich jedoch darauf konzentrieren, unter welchen Bedingungen der Extraktivismus soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Modelle weiterhin reproduziert, um als Entwicklungsmodell fortzubestehen.
  • Trotz erheblicher Unterschiede hinsichtlich natürlicher Ressourcen, institutioneller Arrangements, Staatlichkeit, Regimequalität und sozialer Konfigurationen weisen die Rentengesellschaften des Maghreb wesentliche Ähnlichkeiten in ihren Entwicklungsmodellen auf, die mithilfe des Konzepts des Extraktivismus beschrieben werden können. Dennoch sind theoretisch fundierte und methodisch solide Studien erforderlich, um die Partikularitäten sowie generalisierbaren Muster des Extraktivismus in diesen Ländern zu verstehen.
  • Schließlich können die Erfahrungen der lateinamerikanischen Länder als theoretischer Bezugspunkt für die Maghreb-Staaten dienen. Die Forschung zum Extraktivismus in Lateinamerika ist fortgeschritten, und politische Ansätze werden ausgiebig diskutiert oder sogar bereits umgesetzt. Daher sollte die Frage, wie Forschung und politische Praxis im Maghreb von den Erfahrungen des Extraktivismus in Lateinamerika inspiriert werden können, im Mittelpunkt zukünftiger Diskussionen stehen, die einen Süd-Süd-Dialog über Möglichkeiten und Grenzen der Überwindung des Extraktivismus lenken.
    Diese offenen Fragen werden im Rahmen des Projektverbundes Extraktivismus weiterhin untersucht und in die bereits etablierten Forschungsaktivitäten integriert. Eine Veröffentlichung der Konferenzergebnisse in der Reihe internationaler Projekte ist geplant. Darüber hinaus werden weitere Extractivism Policy Briefs konkrete Empfehlungen an die politischen Entscheidungsträger im Maghreb formulieren.

Contact:​

Conference Venue​

Bilbiothèque nationale de Tunisie
1008, Boulevard du 9 Avril 1938, Tunis

24 de Octobre 2023

Université de Tunis
Faculté des Sciences Humaines et Sociales de Tunis
Salle Salah Guermadi
94 Boulevard du 9 avril 1938, Tunis

25 de Octobre 2023