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Am 9. November 2022 veranstaltete das Verbundprojekt Extractivism.de einen zweiten internen Workshop in Marburg, der die erste Kohorte von Gastwissenschaftler:innen der Philipps-Universität Marburg und Universität Kassel zusammenbrachte. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Herausarbeitung der wichtigsten konzeptionellen Unterschiede beziehungsweise Gemeinsamkeiten in der Diskussion um Renten und Extraktivismus zwischen Lateinamerika und dem Maghreb. Das Extractivism.de-Team und die Gastwisenschaftler:innen diskutierten Möglichkeiten, an denen Extraktivismus als Phänomen jenseits regionaler Besonderheiten deutlich wird.

Die erste Fellow-Kohorte befindet sich derzeit in Kassel und Marburg, um die vielfältigen theoretischen und methodischen Ansätze zu diskutieren, die es ermöglichen, Extraktivismus als ein Konzept zu begreifen, das von einer Region zur anderen übertragen werden kann. Unsere Gäste aus Lateinamerika und dem Maghreb nutzen dieses gemeinsame Projekt, um Ideen auszutauschen, Arbeitspapiere zu diskutieren und ihre unterschiedlichen Studien und Forschungsdesigns miteinander zu verknüpfen – und so Wege für eine regional übergreifende Analyse zu finden. Auf diese Weise war das Treffen am 9. November das dritte seiner Art, da wir bereits einen Workshop an der Universität Kassel und eine internationale Jahreskonferenz im Oktober 2022, ebenfalls in Kassel, durchgeführt haben.

Die Struktur des Workshops bestand aus der Diskussion dreier Texte: Introduction: The Political Economy of Extractivism (Warnecke-Berger und Ickler, im Erscheinen), Structural Reform, Economic Order, and Development: Patrimonial Capitalism (Schlumberger, 2008), und Dependency, Rent, and the Failure of Neo-Extractivism (Burchardt Dietz, Warnecke-Berger, 2021). Die Idee war, einen gemeinsamen Faden dieser drei verschiedenen Lesarten ähnlicher Phänomene herzustellen. Es wurde einmal mehr deutlich, dass Gesellschaften, die von Renten abhängig sind, in den meisten Fällen von spezifischen Merkmalen durchdrungen sind, die ihre Einbindung in den globalen Kapitalismus kennzeichnen. Im Laufe des Workshops haben wir daher diskutiert, wie wir konzeptionell und theoretisch zwischen Kapitalismus und Extraktivismus unterscheiden können, warum dies notwendig ist und welchen Nutzen diese konzeptionelle Unterscheidung für die Ziele des gesamten Forschungsprojekts hat.

Auf diese Weise war der Workshop sehr förderlich für den Fortgang des Projekts. Indem wir diese transdisziplinären und regional übergreifenden Räume schaffen, provozieren wir: In welcher Hinsicht ist eine Region partikular und in welcher nicht? Welches sind die unterschiedlichen Prioritäten, auf die sich die Literatur der einzelnen Weltregionen konzentriert hat? Inwieweit spiegeln diese wissenschaftlichen Prioritäten lediglich dieselben Phänomene wider (Abhängigkeit von Renten), die aber bisher nicht als solche behandelt wurden? Wir waren uns zwar einig, dass sich die Fachliteratur für Lateinamerika und dem Mittleren Osten und Nordafrika in unterschiedliche Richtungen entwickelt hat, doch sind wir ebenso überzeugt, dass ein Vergleich der beiden Regionen dringend benötigte neue Erkenntnisse über die Ursachen des anhaltenden Extraktivismus liefern kann. Daher brachten alle Gastwissenschaftler:innen verschiedene und für ihre Analyse relevante Probleme ein – wie soziale Ungleichheit, das Verhalten von Eliten, Staatlichkeit, Militarismus, das Erbe des Kolonialismus, die Nutzung der Natur, Korruption, soziopolitische Marginalisierung und Klassenbildung. Unser Projektleiter, Prof. Dr. Rachid Ouaissa (Philipps-Universität Marburg), und unser Projektkoordinator, Dr. Hannes Warnecke-Berger (Universität Kassel), leiteten die Diskussion und erstellten eine vergleichende Tabelle, die als Grundlage für den transregionalen Vergleich dienen soll, den unser Projekt vorantreibt. Dies ist besonders wichtig für die transregionale Arbeit unserer beiden Post-Doktorandinnen Luíza Cerioli (Universität Kassel) und Dr. Camila Ponce Lara (Philipps-Universität Marburg).

Wir haben einige Kernpunkte definiert, um als gemeinsames Forschungsprojekt voranzukommen. Erstens sind wir uns einig, dass das koloniale Erbe für das Verständnis extraktivistischer Gesellschaften von wesentlicher Bedeutung ist, selbst wenn – oder gerade wenn – unterschiedliche Arten von Kolonialstaaten in jeder Region zu unterschiedlichen Konfigurationen führten. Zweitens haben wir festgestellt, dass verschiedene soziale Klassen im Kontext des Extraktivismus sowohl in Lateinamerika als auch im Maghreb eine ähnliche Rolle spielen, was uns motiviert, neue methodische Instrumente zu finden, die Vergleiche auf der Grundlage der sozialen Funktion der Akteure jenseits ihrer klassischen Definitionen ermöglichen. Drittens stellten wir fest, dass ähnliche Phänomene in den von uns untersuchten Staaten zu unterschiedlichen historischen Zeiten auftraten, was uns auf die Idee brachte, dass Vergleiche auf nicht-anachronistische Weise vorgenommen werden können. Schließlich wurde deutlich, dass es notwendig ist, theoretische Grundlagen zu finden, die es ermöglichen, formelle und informelle Institutionen zu untersuchen, um zu verstehen, wie Macht in extraktivistischen Gesellschaften ausgeübt wird und wie die Renten verteilt werden.

Daher wurden bei diesem dritten Treffen viele unserer Ziele mit der ersten Fellow-Kohorte erfüllt. Wir einigten uns auf Faktoren, die für die Analyse in beiden Regionen wesentlich sind, reduzierten bestimmte Erwartungen an den regionalen Exzeptionalismus und konzentrierten uns auf die Gründe, die für den regionalen Vergleich extraktivistischer Gesellschaften ausschlaggebend sind. Da wir beide Regionen als Teil des Globalen Südens betrachten, gehen wir davon aus, dass viele strukturelle Faktoren auf die langjährige soziale und wirtschaftliche Abhängigkeit von den Erträgen aus dem Rohstoffabbau zurückzuführen sind. Indem wir schließlich aufzeigten, welchen Mehrwert die lateinamerikanische Extraktivismus-Literatur für die Rentierstaat-Theorie der MENA-Region (und umgekehrt) haben kann, legten wir den Grundstein für die Innovation unseres Projekts, das im Kern darauf abzielt, diese beiden Regionen miteinander in den Dialog zu bringen.